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Michael Lenz

Geschlechtersozialisation

aus biologischer Sicht

Anlage und Erziehung

178 S., DM 39,80

ISBN 3-932602-79-X

Erhältlich in jeder Buchhandlung oder direkt bei
ibidem

Kurzfassung (Umschlagtext)

Bei der Geschlechtszugehörigkeit handelt es sich um eines der grundlegenden menschlichen Unterscheidungsmerkmale. In ähnlicher Weise kommt der Geschlechterdebatte im Rahmen der Sozialisationsforschung ein besonderer Stellenwert zu. Thematisiert wird dabei schwer­punktmäßig, auf welche Weise geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale im Prozeß der frühkindlichen Sozialisation angeeignet werden und schließlich zum Erwerb einer stabilen Geschlechtsidentität führen. Wo liegen jedoch die Ursachen für typisch weibliches oder männliches Rollenverhalten? Werden geschlechtsspezifische Verhaltensweisen vorrangig gelernt, sind sie als Folgen biologischer Reifungsprozesse anzusehen oder ist diese Dichotomisierung von Anlage und Umwelt, die sich auch in der Unterscheidung von ,Sex' und ,Gender' in der Geschlechterdebatte widerspiegelt, überflüssig oder sogar kontraproduktiv?

Der Autor setzt sich bei der Klärung dieser Fragen zunächst mit zentralen Ansätzen der Geschlechtersozialisation aus den Bereichen der Psychoanalyse, Kognitionspsychologie und des konstruktivistisch-orientierten Feminismus auseinander. Anschließend werden diesen Konzepten neue Erkenntnisse aus biologischen Disziplinen wie der Evolutionsbiologie, Primatologie und der Verhaltensgenetik gegenübergestellt. Dabei wird deutlich, daß die Auseinandersetzung mit biologischem Wissen in der Sozialisationsforschung dringend einzufordern ist, um durch eine interdisziplinäre Sichtweise der Klärung grundlegender Fragen in der Geschlechterdebatte näherzukommen. Gerade eine derartige Auseinandersetzung mit biologischen Rahmenbedingungen erfolgt  jedoch   in   sozialisationstheoretischen Ansätzen nur am Rande. Im Anschluß an den Nachweis, daß sich sozialisationstheoretische und biologische Ansätze nicht zwangsläufig aus­schließen müssen, richtet der Autor anhand von fünf Thesen Forderungen an die weitere Arbeit in der Sozialisationsforschung und -theoriebildung.

 

Leseprobe (Kapitel 1):

1. Einleitung

Ziel dieser Arbeit ist die Gegenüberstellung und der Vergleich sozialisationstheoretischer und biologischer Ansätze am Beispiel der Geschlechterfrage: Gibt es einen biologisch angelegten Geschlechtscharakter oder sind Geschlechterunterschiede auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen zurückzuführen, und werden somit im Laufe der ontogenetischen Entwicklung durch unterschiedliche Erfahrungen mit der Umwelt erworben? Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwieweit biologisches Wissen im Rahmen des pädagogischen Diskurses, insbesondere in Ansätzen zur Geschlechtersozialisation, Berücksichtigung findet. Zur Illustration dieser Problemstellung sollen im folgenden zwei Auffassungen unterschiedlicher Forschungstraditionen vorgestellt werden, die gar nicht gegensätzlicher sein können:

Beispiel 1: Aus ihren kulturanthropologischen Studien zieht die Ethnologin Margaret Mead die generalisierende Schlußfolgerung: „Eigenschaften, die als maskulin oder feminin zu gelten pflegen, scheinen demnach mit dem Geschlecht ebenso lose verbunden zu sein wie Kleidung“ (Mead 1970, Bd. 3, S. 250). In Übereinstimmung dazu konstatieren Kessler und McKenna bezüglich der Identifikation von Kriterien, anhand derer sich die Geschlechtszugehörigkeit bestimmen läßt, ein höchst uneinheitliches Bild bezüglich des derzeitigen Forschungsstandes und verdeutlichen die damit verbundene Verwirrung an folgendem Beispiel: „Ist eine Person mit männlicher Geschlechtszuweisung, weiblicher Identität, männlichen Interessen, männlichen Sexualpartnern und weiblicher Kleidung ein Mann oder eine Frau?“ (Kessler/McKenna 1978, S. 16 f.).

Beispiel 2: David C. Rowe gelangt nach intensiver Auseinandersetzung mit verhaltensgenetischen Studien, worunter insbesondere Zwillings- und Adoptionsstudien zu verstehen sind, zu folgendem Fazit: „Am häufigsten hört man heutzutage die Meinung, eine unterschiedliche Erziehung ‚verursache‘ Geschlechterunterschiede im Verhalten [...] Wenn man es alles einmal anders betrachtet, werden Jungen und Mädchen vielleicht unterschiedlich erzogen, weil sie unterschiedlich ‚sind‘, nicht weil die Erziehung sie so gemacht hat” (Rowe 1997, S. 203).

Anhand dieser Beispiele drängt sich die Frage auf: Weshalb kommen Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Fachdisziplinen bezüglich des gleichen Problems, nämlich der Frage nach den Ursprüngen und der Entstehung von Geschlechterunterschieden und der Geschlechtsidentität bzw. der sexuellen Orientierung, zu derart konträren Ergebnissen? Im Rahmen dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, anhand biologischem und sozialisationstheoretischem Hintergrundwissen Antworten auf diese Frage zu finden.

Um diese Fragestellungen weiter auszuführen, wird im folgenden zunächst die Rezeption biologischen Wissens in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften [1] einer zunächst überblicksartigen Prüfung unterzogen (Abschnitt 1.1). Anschließend erfolgt eine Einschränkung des Gegenstandsbereichs, so daß exemplarisch die Sozialisationsforschung in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt wird. Dabei wird anhand des grundlegenden Begriffsverständnisses und der Selbstdefinition der Sozialisationsforschung geprüft, wie aus ihrem Blickwinkel biologisches Wissen beurteilt wird (1.2). Sodann werden die eingangs aufgeworfenen Fragestellungen präzisiert und der Gang der Argumentation kurz geschildert (1.3).

1.1 Die mangelnde Rezeption biologischen Wissens in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften

Sozialisationsforschung kann als eine interdisziplinäre Forschungsrichtung angesehen werden, die um die Zusammenführung psychologischer, soziologischer und pädagogischer Erkenntnisse bemüht ist (vgl. Tillmann 1995, S. 278). Die große Mehrheit der Theorien innerhalb der Sozialisationsforschung entstammt somit den sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie und Soziologie. Interdisziplinarität entsteht vor allem durch die Verknüpfung von Theorien dieser beider Disziplinen. Da viele sozialisationstheoretische Gegenstände auch in der biologischen Forschung eine wichtige Rolle spielen, wird im folgenden analysiert, inwieweit biologische Erkenntnisse innerhalb der Sozialisationsforschung bzw. der an ihr beteiligten Disziplinen berücksichtigt werden und welche Ursachen diesem Stand der Rezeption zugrunde gelegt werden können.

Innerhalb der an der Sozialisationsforschung beteiligten Disziplinen erfolgt eine sehr unterschiedliche Rezeption biologischen Wissens: In einigen wenigen soziologisch und psychologisch orientierten Forschungsrichtungen wird explizit eine Einbindung biologischer Erkenntnisse in die eigene Theoriebildung betreiben bzw. auf der Grundlage biologischer Forschung aufgebaut. Als Beispiele können die Entwicklungspsychologie (vgl. z. B. Benesch u. a. 1992), die Biopsychologie (vgl. z. B. Pinel 1997), die Persönlichkeitspsychologie (vgl. z. B. Asendorpf 1996), die Emotionspsychologie (vgl. z. B. Meyer/Schützwohl/Reisenzein 1997), die Sozialpsychologie (vgl. z. B. Stroebe/Hew-stone/Stephenson 1996) und die Zwillingsforschung (vgl. z. B. Borkenau 1993) gelten. Diese Beispiele sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel: In den meisten sozial- und verhaltenswissenschaftlich orientierten Forschungsgebieten erfolgt die Auseinandersetzung mit biologischen Erkenntnissen nur marginal, wobei oft einzelne Erkenntnisse (z. B. die Triebtheorie von Konrad Lorenz) aus ihren theoretischen Zusammenhängen „gerissen” und in die eigenen Darstellungen integriert werden (vgl. z. B. v. Cube 1992, 1997, Kritisch: Brumlik 1993), um im Anschluß ihre Unzulänglichkeiten aufzuzeigen. Ein gutes Beispiel für derartige Vorgehensweisen liefert die Aggressionsforschung (vgl. z. B. Selg/Mees/Berg 1988; Gugel 1983; Nolting 1987). [2]

Zum Stand der Rezeption biologischen Wissens innerhalb der Sozialisationsforschung läßt sich feststellen: Die „stammesgeschichtliche“ (= „phylogenetische“) Dimension menschlicher Entwicklung wird nur in einigen wenigen sozialisationstheoretischen Ansätzen berücksichtigt (z. B. durch Einbindung des Evolutionsgedankens). Ansätze dazu finden sich bei Habermas und Parsons (vgl. Lenhart 1992, S. 237 f.), Leontjew, Engels und George Herbert Mead (vgl. Veith 1996), Luhmann (1997) sowie im Rahmen strukturgenetischer Ansätze (vgl. Seiler 1991, S. 104). Ein erster - und nach meinem Kenntnisstand bisher der einzige - Versuch, eine Sozialisationstheorie auf biologischer Basis zu entwickeln, wurde 1990 von Detlef W. Promp unternommen: Auf der Basis neurobiologischer, ethologischer, soziobiologischer und lerntheoretischer Erkenntnisse entwirft Promp ein ontogenetisches Modell eines spiralförmig aufgebauten Reifungsprozesses, in dem durch aktive Auswahl immer neue Gleichgewichte zwischen endogenen und exogenen Faktoren hergestellt werden. Sein Modell weist Ähnlichkeiten sowie entscheidende Unterschiede mit den Modellen von Piaget und Erikson auf. Allerdings wurde dieser Ansatz von anderen Sozialisationsforschern kaum beachtet bzw. mit dem Etikett „biologistisch” versehen und zurückgewiesen (vgl. Tillmann 1995, S. 13).

Es läßt sich somit feststellen: Die Rezeption biologischen Wissens ist in der Sozialisationsforschung bisher trotz ihres interdisziplinären Anspruches recht dürftig ausgefallen. Vielmehr greifen die meisten Basiskonzepte der Sozialisationsforschung auf Erkenntnisse der philosophische Anthropologie zurück, um ihre Auffassungen über die menschliche Natur abzusichern, und gelangen somit nicht über den biologischen Kenntnisstand der 20er oder 30er Jahre dieses Jahrhunderts hinaus (vgl. Promp 1990, S. 13-22; Huisken 1991, S. 22-27).

1.2 Sozialisation – ein anti-biologischer Kampfbegriff?

Sozialisation wird definiert „als der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozi alen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei [...], wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51). Im Mittelpunkt stehen dabei die sich wechselseitig ergänzenden Prozesse der Individuierung, in dem sich das Subjekt zu einem unverwechselbaren Individuum herausbildet, und der Vergesellschaftung, durch die das Subjekt die herrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte internalisiert (vgl. Tillmann 1995, S. 12). Dabei wird in der Sozialisationsforschung von einem neugierigen, aktiv handelnden Subjekt ausgegangen, das sich seine Umwelt selbst aneignet (ebd.). Als weitere Anforderungen an Sozialisationstheorien sollten diese die Phasen der ontogenetischen Entwicklung bezüglich der gesamten menschlichen Lebensspanne sowie die Ebenen (Subjekt, Interaktionen und Tätigkeiten, Institutionen und Gesamtgesellschaft) berücksichtigen, auf denen Sozialisationsprozesse stattfinden (vgl. ebd., S. 15-22, 29 f.).

Im vorherigen Abschnitt wurde bereits gezeigt, daß biologischem Wissen in der Sozialisationsforschung offenbar eine geringe Bedeutung beigemessen wird. Berücksichtigt man den derzeitigen Stand der Sozialisationsforschung, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß biologische Erkenntnisse im Rahmen von Sozialisationstheorien nur herangezogen werden, wenn sich dies nicht vermeiden läßt. In bezug auf den Erwerb der Geschlechtsidentität werden bspw. anatomische Unterschiede berücksichtigt, da sich ohne dieselben biologisches Geschlecht nicht begrifflich fassen läßt. Andererseits setzt man sich in der Sozialisationsforschung jedoch deutlich und per definitionem von sog. „biologistischen” Ansätzen ab und grenzt biologische Ansätze aus, die angeblich die Entwicklung des Menschen reduktionistisch im Sinne von „Reifung” beschreiben (vgl. Tillmann 1995, S. 13). Aus biologischer Perspektive betrachtet wird nicht klar, wo denn wohl diese Fülle von biologistischen Ansätzen gefunden werden kann. Die Ausgrenzung biologischen Wissens aus der Sozialisationsforschung scheint historisch stark verwurzelt zu sein, wenn man bspw. die Entwicklung des Anlage-Umwelt-Disputes in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts betrachtet. Dabei wird immer wieder die alte und aus heutiger biologischer Sicht unsinnige Frage erörtert, ob menschliches Verhalten durch das Wirken von Genen oder Umweltfaktoren bestimmt wird. Dies hat dazu beigetragen, daß einige sozialisationstheoretische Ansätze extrem kulturdeterministische Züge aufweisen. Dies gilt z. B. für weite Teile der Lerntheorie, die eine fast unbegrenzte kulturelle Formbarkeit des Menschen durch Erziehung unterstellt. Ähnlich läßt sich die struktur-funktionale Rollentheorie Parsons einordnen, die sich darauf konzentriert, menschliche Persönlichkeitsentwicklung anhand gesellschaftlicher Einflüsse zu erklären. Vor diesem Hintergrund läßt sich Sozialisation durchaus als „anti-biologischer Kampfbegriff” verstehen. Verbunden sind damit Tabuisierungen und Rezeptionsverweigerungen, die anscheinend große Teile der Sozial- und Verhaltenswissenschaften infiziert und auch vor der Sozialisationsforschung nicht haltgemacht haben: die „Biophobie“. Bezüglich der kulturanthropologischen Arbeiten von Margaret Mead, auf die in Beispiel 1 dieser Einleitung bereits hingewiesen wurde und die in späteren Abschnitten noch genauer analysiert werden sollen, fühlen sich Martin Daly und Margo Wilson zu folgendem ironischen Fazit verpflichtet:

„What is of interest is how the myth fills a need for social scientists and commentators. It seems to demonstrate that our social natures are pure cultural artifacts, as arbitrary as the name of the rose, and that we can therefore create any world we want, simply by changing our ‚socialization practices.‘ (This may sound a remarkably totalitarian vision, but it´s not, you see, because the new, socialization practices will be designed by nice people with everyone´s best interest at heart, and not by nasty, self-interested despots.) The social science that is used to legitimize this ideology can only be described as biophobic“ (Daly/Wilson 1988, S. 153 f., Hervorh. im Original)

Unterzieht man die derzeitigen Theorieansätze zur Sozialisation einer Analyse, so zeigt sich, daß sie mit Hilfe des Phasenmodells die ontogenetische Dimension und mit Hilfe des Strukturmodells die Umweltdimension des Sozialisationsprozesses erfassen. Ein Vergleich mit den biologischen Wissenschaftsdisziplinen zeigt eine Lücke in der Erklärung menschlicher Persönlichkeitsentwicklung auf: Eine phylogenetische Dimension scheint in der Sozialisationstheorie nicht zu existieren. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Wichtigkeit der Einbeziehung der Stammesgeschichte durch die Berücksichtigung der Evolutionstheorie noch zu zeigen sein. Ein derartiger „Dreischritt” von Phylogenese, Ontogenese und der gesellschaftlich-historisch vermittelten Umwelt gehörte bspw. zum Konzept der Kritischen Psychologie (vgl. Ottomeyer 1991, S. 166 f.) sowie der Tätigkeitspsychologie von Leontjew (1973); in der aktuellen sozialisationstheoretischen Diskussion spielen solche Konzepte jedoch kaum noch eine Rolle. Aus verhaltensbiologischer Sicht ermöglicht der Einbezug der phylogenetischen Dimension zudem – im Vergleich zur Beschränkung auf die Frage nach den proximaten Ursachen (Wirkursachen; Frage: Wie?) der Entstehung einer Verhaltensweise oder eines Persönlichkeitsmerkmals, die auch in der Sozialisationsforschung gestellt werden kann – die Frage nach den ultimaten Ursachen (Zweckursachen; Frage: Wozu?). So werden bezüglich der Frage nach den proximaten Ursachen die Mechanismen untersucht, die einer bestimmten Verhaltensweise zugrunde liegen. Hinsichtlich der ultimaten Ursachen wird jedoch gefragt, weshalb sich diese Mechanismen bzw. die Verhaltensweise überhaupt in der Evolution entwickelt hat (vgl. z. B. Alcock 1996, S. 1). Es wird im Rahmen dieser Arbeit zu zeigen sein, welch immense Perspektiverweiterung sich durch die Berücksichtigung der phylogenetischen Dimension eröffnet (vgl. Eckensberger/Keller 1998, S. 51).

Abschließend sollen im folgenden vier Vermutungen hinsichtlich der Ursprünge dieser mangelnden Rezeption biologischen Wissens bzw. der biophoben Einstellungsmuster geäußert werden:

(a) Viele sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Vorbehalte lassen sich durch den Gebrauch bestimmter biologischer Fachbegriffe erklären: Soziobiologen verwenden beispielsweise ein aus der Ökonomie abgeleitetes Fachvokabular, das schnell zu Mißverständnissen führen kann. So ist von „Fitnessmaximierung”, dem „Kampf ums Dasein”, „Kosten-Nutzen-Abwägungen”, „parentalem Investment” und „ego­istischen Genen” die Rede. Diese Begriffe besitzen im biologischen Sprachgebrauch eine völlig andere Bedeutung als im Alltagssprachgebrauch und leisten Mißverständnissen regelrecht Vorschub (vgl. Wuketits 1997, S. X).

(b) Da manche verhaltensbiologischen Publikationen einen stark populärwissenschaftlichen Stil aufweisen (vgl. z. B. Morris 1994) und mit nur wenigen bzw. gar keinen Quellenverweisen versehen sind (vgl. z. B. Hamer/Copeland 1998; jedoch nur in der deutschen Übersetzung), herrscht beim Leser nicht nur Unwissenheit bezüglich der Verläßlichkeit und Überprüfbarkeit der dargebotenen Thesen, sondern zudem Irritation hinsichtlich der Methoden, mit deren Hilfe diese Erkenntnisse gewonnen worden sind. Bei einigen Publikationen stellt sich somit die Frage, ob sie überhaupt wissenschaftlichen Kriterien entsprechen.

(c)  Viele Mißverständnisse sind dadurch bedingt, daß Humanethologen oder Soziobiologen vorgeworfen wird, von einem „Ist”-Zustand auf einen „Soll”-Zustand zu schließen, also bspw. erzieherische Ratschläge aus biologischen Fakten abzuleiten. Dieser „naturalistische Fehlschluß” (vgl. Voland 1993, S. 20) läßt sich auch in einigen biologischen (zumeist humanethologischen) Werken finden. Von Sozial- bzw. Verhaltenswissenschaftlern wird dieses Argument jedoch benutzt, um biologische Ansätze schon im Vorfeld zu kritisieren (vgl. Gräfrath 1997, S. 7), was m. E. einer Instrumentalisierung des Ideologievorwurfs gleichkommt. Die primäre Absicht der Verhaltensbiologen ist zunächst die Beschreibung von Verhaltensweisen. Die Grenze, an der diese Beschreibungen in ethische Forderungen oder Ansichten übergehen, ist zwar fließend, kann aber oft nachvollzogen werden, so daß sich Erkenntnisse von moralischen Argumenten trennen lassen. In jedem Falle ist aus wissenschaftlicher Sicht vor der Kritik eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand zwingend erforderlich.

(d) Durch die Entwicklung der Soziobiologie dürften bei einigen Sozialwissenschaftlern auch Ängste vor dem Verlust eigenen wissenschaftlichen Terrains anzutreffen sein. Durch die Ansprüche der Soziobiologie auf Gebiete der Verhaltensforschung, Soziologie und Psychologie beispielsweise wurde – auch innerhalb der biologischen Verhaltenswissenschaften – ein regelrechter Meinungsstreit um die Biologie entfacht: Kritische Argumente gegen die Soziobiologie und auch die Humanethologie reichen dabei von Ideologievorwürfen (in Richtung Sozialdarwinismus) bis hin zu einer Verortung in politisch „rechts” angesiedelte Denkrichtungen (vgl. z. B. Brumlik 1993; Schmidbauer 1973; Hemminger 1996; Hernegger 1989; Horgan 1996a; Kattmann 1993). Lewontin, Rose und Kamin (1988) scheinen sogar derart schlagkräftige Argumente gegen die Soziobiologie zu liefern, daß sich im Gegenzug Soziobiologen nur noch mit Weltanschauungsvorwürfen ihrerseits erwehren können und ihre Hauptkritiker (hier: Richard C. Lewontin) als Marxisten titulieren (vgl. Wuketits 1997, S. 2).

Es läßt sich zusammenfassend herausstellen, daß im Meinungsstreit um die Bedeutung biologischer Erkenntnisse vieles auf Mißverständnissen, begrifflichen wie auch erkenntnistheoretischen, beruht. Um den Nutzen biologischer Sachverhalte und Erkenntnisse für die Sozialisationsforschung angemessen untersuchen zu können, erfordert es jedoch neben einer grundsätzlichen Objektivität zunächst einer gewissen Offenheit für biologische Argumentationen.

1.3 Fragestellung und Gang der Argumentation

In den bisherigen Ausführungen wurden im Rahmen einer ersten, überblicksartigen Literatursichtung deutliche Anzeichen für die mangelnde Rezeption biologischer Sachverhalte in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften – und damit auch im Bereich der Sozialisationsforschung - gefunden. Letztere scheint sich bereits in ihren Grundannahmen deutlich von biologischen Positionen zu distanzieren. Vor diesem Hintergrund lassen sich die eingangs angedeuteten Problemlagen zu den vier folgenden Fragestellungen konkretisieren, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen sollen:

·     Inwiefern werden biologische Sachverhalte in sozialisationstheoretischen Ansätzen überhaupt berücksichtigt?

·     Gibt es einen biologisch angelegten Geschlechtscharakter?

·     Wie werden der Erwerb der Geschlechtsidentität und die Entstehung von Geschlechterunterschieden in Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensweisen in sozialisationstheoretischen im Vergleich zu biologischen Ansätzen erklärt?

·     Stehen sich sozialisationstheoretische und biologische Ansätze bezüglich der Geschlechterfrage unvereinbar gegenüber, schließen sie sich gegenseitig aus oder können sie sich wechselseitig ergänzen?

Die argumentative Vorgehensweise zur Klärung dieser Leitfragen wird im folgenden kurz beschrieben:

Zunächst soll die auf der Basis der in Abschnitt 1.1 durchgeführten Literatursichtung entwickelte These von der mangelnden Rezeption biologischen Wissens in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften einer eingehenden Überprüfung unterzogen werden. Dazu werden exemplarisch drei unterschiedliche Ansätze zur Geschlechtersozialisation in ihren Grundannahmen bezüglich des Erwerbs der Geschlechtsidentität und der Erklärung der Entstehung von Geschlechterunterschieden dargestellt und in bezug auf die Berücksichtigung biologischer Sachverhalte einer kritischen Prüfung unterzogen (Kapitel 2). Zudem wird in Hinblick auf Abschnitt 3.2.4 die Frage gestellt, welchen Beitrag sozialisationstheoretische Ansätze zur Erklärung der sexuellen Orientierung, insbesondere der Homosexualität, die nach biologischer Auffassung ein ungeklärtes Paradoxon menschlichen Nicht-Fortpflanzungsverhaltens darstellt, leisten können. In Hinblick auf diese Fragen werden in Abschnitt 2.1 psychoanalytische (Freud, Chodorow) und in Abschnitt 2.2 kognitionspsychologische (Piaget, Kohlberg) Ansätze zur Geschlechtersozialisation analysiert. Als drittes Beispiel werden in Abschnitt 2.3 feministisch-konstruktivistische Theorien, insbesondere der Ansatz von Carol Hagemann-White, behandelt. Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels kurz zusammengefaßt (Abschnitt 2.4).

Im dritten Kapitel werden biologische Forschungsergebnisse und Erklärungsansätze zum Erwerb der Geschlechtsidentität und zur Frage der Entstehung geschlechtsspezifischer Persönlichkeitsunterschiede und Verhaltensweisen sowie der sexuellen Orientierung zusammengetragen. Dazu werden in einem ersten Unterkapitel biologische Grundparadigmen (z. B. bezüglich der Evolution des Menschen, stammesgeschichtlicher Anpassungen an die evolutionäre Ur-Umwelt und des Zusammenhangs zwischen Genen und Verhalten) erläutert (3.1). Diesbezüglich werden humanethologische, primatologische und verhaltensgenetische Forschungen herangezogen. Anschließend werden die Ergebnisse dieses Unterkapitels kurz zusammengefaßt und erste Schlußfolgerungen hinsichtlich der Frage nach einem biologisch angelegten Geschlechtscharakter formuliert. Das zweite Unterkapitel widmet sich ausschließlich der Frage, welche Erkenntnisse biologische Ansätze zur Geschlechterdebatte beisteuern können (3.2). Dabei wird zum einen der Prozeß der geschlechtlichen Differenzierung bzw. die Entwicklung des dimorphen Geschlechtscharakters [3] anhand des derzeitigen Forschungsstandes erläutert, wobei insbesondere auf die Erklärung hormoneller Entwicklungsstörungen eingegangen wird. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werden biologische Rahmenbedingungen und Faktoren diskutiert, die hinsichtlich des Erwerbs der Geschlechtsidentität von Bedeutung sein können. Zum anderen werden anhand von Meta-Analysen Bereiche menschlicher Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen betrachtet, in denen nach derzeitigem Forschungsstand biologische Dispositionen an der Entstehung von Geschlechterunterschiede beteiligt sein können. Dabei werden Hypothesen hinsichtlich ultimater Ursachen für die Entstehung dieser Unterschiede im Rahmen der Phylogenese entwickelt. Zudem wird der eingangs dargestellte „Dreischritt“ methodisch auf die Erklärung der Ursprünge der Homosexualität angewandt. Abschließend werden die Ergebnisse dieses Kapitels kurz zusammengefaßt und hinsichtlich der Frage nach einem biologisch angelegten Geschlechtscharakter diskutiert.

Im vierten Kapitel wird vorrangig auf die vierte der eingangs formulierten Fragestellungen eingegangen. Es soll somit erörtert werden, ob sich sozialisationstheoretische und biologische Ansätze unvereinbar gegenüberstehen, sich gegenseitig ausschließen oder Anknüpfungspunkte zwischen den verschiedenen Paradigmen und Zugangsweisen gefunden werden können. Dazu werden sowohl die in Kapitel 2 dargestellten sozialisationstheoretischen Ansätze (4.1) als auch die in Kapitel 3 zusammengestellten biologischen Theorien und Paradigmen (4.2) einer kritischen Prüfung in bezug auf Erklärungsdefizite unterzogen. Ausgehend von der These, daß die Existenz erfolgreicher interdisziplinärer Verkoppelungsversuche dieser unterschiedlichen Paradigmen als Beleg für ihre grundsätzliche Vereinbarkeit gewertet werden kann, wird in Abschnitt 4.3 das von Jens B. Asendorpf entwickelte, integrative Modell zur Erklärung von Geschlechtsunterschieden in seinen Grundelementen vorgestellt und in einem eigenen Auslegungsversuch auf die Entstehung von Geschlechterunterschieden bezüglich aggressiven Verhaltens angewandt, wobei der Versuch der Integration einer Vielzahl der in dieser Arbeit vorgestellten Forschungsergebnisse zur inhaltlichen Füllung dieses Modells unternommen wird (4.3). In Abschnitt 4.4 wird versucht, die eingangs aufgestellten Leitfragen kurz zu beantworten. Zum Abschluß werden auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeit in der Form von fünf Thesen Forderungen an die weitere Arbeit in der Sozialisationsforschung und -theoriebildung gerichtet (4.5).

 

Anmerkungen

[1] Damit sind insbesondere angesprochen: Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft.

[2] Seit kurzem wird jedoch in der Gewalt-Diskussion eine vorurteilsfreie Einbeziehung neuerer biologischer Erkenntnisse, bspw. zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im Aggressionsverhalten, angemahnt (vgl. Euler 1997).

[3] Unter dem Begriff „dimorpher Geschlechtscharakter“ soll im Rahmen dieser Arbeit auf die These verwiesen werden, daß bereits früh in der ontogenetischen Entwicklung Prozesse der Geschlechtsdifferenzierung stattfinden, die z. B. irreversible hormonelle Ausdifferenzierungen des Gehirns nach männlichen oder weiblichen Mustern bewirken (vgl. z. B. Kimura 1996, S. 104, 112), und diese sich auch auf der Verhaltensebene niederschlagen können (vgl. z. B. Ewert 1998, S. 131). Mit diesem Begriff ist somit nicht eine biologische Determination geschlechtstypischer Verhaltensweisen im Sinne ihrer Unveränderlichkeit gemeint, sondern der Hinweis auf biologische Faktoren verbunden, die an der Entstehung geschlechtstypischer Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale beteiligt sein können (vgl. insb. die Abschnitte 3.2.1 und 3.2.2).

 

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